Wenn Kinder aus Problemfamilien genommen werden müssen, springen oftmals Pflegeeltern ein. Foto: dpa
Hilfe – Wenn das Zuhause kein Zuhause mehr ist, suchen Gabi Riepl und Claudia Gerling Pflegeeltern für Kinder
PFULLINGEN/REUTLINGEN. Knapp 10 000 junge Menschen leben in Baden-Württemberg im Rahmen der Jugendhilfe in einer Pflegefamilie. Claudia Gerling und Gabi Riepl von pro juventa sind für 34 von ihnen verantwortlich. Die beiden koordinieren in ihrem Büro in Pfullingen 26 Familienstellen und versuchen Pflegeeltern und Pflegekinder so zueinanderzubringen, dass es passt. »Das passt« ist auch der Titel einer Ausstellung, die bis zum 24. Juli im Foyer der VHS Reutlingen zu sehen ist. Sie soll vor allem auch darum werben, was Gerling und Riepl dringend suchen: neue Pflegeeltern. Denn die Nachfrage nach einem Zuhause für Kinder und Jugendliche, die aus den verschiedensten Gründen nicht mehr bei ihren Familien bleiben können, ist groß.
Romina De Braco (24) kam mit ihrem kleinen Bruder in eine Pflegefamilie. Die Polizei hat die damals gerade Dreijährige aufgrund starker Verwahrlosung aus ihrer Familie geholt und noch am selben Abend bei einer Notfamilie untergebracht. Aus der ursprünglichen Übergangslösung ist ein Langzeitplatz geworden. Und aus den Pflegeeltern »Mama und Papa«. Aber das war alles andere als ein Selbstläufer. »Ich saß immer zwischen zwei Stühlen«, erzählt die 24-Jährige offen. »Ich hatte beide Papas lieb.« Mit den Jahren habe sie gelernt, mit den Schmerzen umzugehen. Denn egal, was die Eltern einem angetan hätten, sie blieben dennoch die Eltern.
»Jemand kommt, nimmt einen an die Hand, bis man auf den eigenen Beinen stehen kann«
Oft hat sich die junge Frau gefragt, wie es gewesen wäre, wenn sie bei ihren Eltern aufgewachsen wäre und »warum ich?« Einmal ist sie den Pflegeeltern weglaufen, erzählt sie, und dass das alles auch an ihrem Selbstbewusstsein genagt hat. Froh war sie in dieser Zeit, dass sie nicht alleine war. Mit ihrem Bruder war stets ein Teil ihrer Familie dabei. Heute ist sie zufrieden mit sich: »Ich bin so, wie ich bin«, sagt sie und ist froh, dass sie vor 21 Jahren bei Pflegeeltern unterkam: »Jemand kommt, nimmt einen an die Hand, bis man auf den eigenen Beinen stehen kann.«
Nicht immer eine einfache Aufgabe: »Das ist ein 24-mal-365-Job«, sagt Elke Krauss: »Eine Krankschreibung nutzt dir nix.« Die Sonnenbühlerin und ihr Mann sind Pflegeeltern aus Überzeugung. Anders geht es auch nicht. Gerling und Riepl suchen ein Zuhause für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche, seelisch schwer vorbelastete Kinder oder Jugendliche oder auch minderjährige Ausländer. Deshalb muss zumindest ein Elternteil eine pädagogische Ausbildung haben, um eine sogenannte professionelle Erziehungsstelle anzubieten. Elke Krauss und ihr Mann konnten keine eigenen Kinder bekommen und wollten doch Familie. Und die Sonnenbühlerin, die zuvor im Kindergarten gearbeitet hatte, wollte Kinder individueller fördern. Beides bringt sie in der Erziehungsstelle unter einen Hut.
Erziehungsstellen sind die Alternative zu einer Heimunterbringung – und gesucht. Die beiden pro-juventa-Mitarbeiterinnen betreuen Familien in fünf Landkreisen und bekommen auch überregionale Anfragen. »Das geht bis Düsseldorf«, berichtet Claudia Gerling. »Die Jugendämter haben Mühe, passende Familien zu finden.« Denn einfach in eine neue Familie gesteckt werden die Kinder natürlich nicht. Ein entscheidendes Kriterium ist dabei, dass sich die ganze Familie einig ist, ein Pflegekind aufnehmen zu wollen. Nur dann ist es sinnvoll.
Im Vorfeld machen die beiden eine Stärken- und Schwächenanalyse mit der Familie, um festzustellen, ob Kind und Pflegefamilien zueinanderpassen. Dazu gehört auch die Frage nach der Empfindlichkeit der Nachbarschaft, und wie weit diese wohl bereit ist, ein schwieriges Kind zu akzeptieren. Die Vorlage eines Gesundheits- und eines Führungszeugnisses sind ebenfalls Vorbedingungen, bevor es zum ersten Kontakt kommt.
Elke Krauss bringt es auf den Punkt: Man müsse bereit sein, andere Menschen in seine Familie blicken zu lassen und könne die Tür nicht einfach zu machen. »Das muss man aushalten, das da noch andere mit am Tisch sitzen.« Ob es die leiblichen Eltern sind oder die in regelmäßigen Abständen stattfindenden Besuche von Riepl und Gerling. Die Familie ist mit der Aufnahme transparent und steht vor besonderen Herausforderungen. Das reicht bis zur pingeligen Einhaltung der Aufsichtspflicht. Deshalb mussten Elke Krauss und ihr Mann die damals 16-jährige Pflegetochter eines Abends kurz nach Konzertbeginn aus dem Franz K. holen. Der Auftritt des Künstlers hatte sich verzögert. »Beim eigenen Kind hätte man gesagt, jetzt lass es halt«, sagt Elke Krauss – Jugendschutzbestimmungen hin oder her. Bei einem Pflegekind gehe das eben nicht.
»Der Druck auf die abgebenden Eltern ist enorm«
»Ich bin sehr freiheitsliebend und das weiß die Mama auch.« Esengül Akkaya blickt bei diesem Satz mit einem Lächeln auf Elke Krauss, die im Büro von pro juventa neben ihr auf dem Sofa sitzt. Vor 21 Jahren ist die 24-Jährige zu der Sonnenbühlerin gekommen, in Absprache und mit Zustimmung ihrer Mutter. »Das ist eine gute Voraussetzung, wenn es so beginnt«, sagt Claudia Gerling, doch das ist nicht oft so möglich. Und selbst wenn die Eltern einverstanden sind, ist die Trennung von den Kindern mit einem riesengroßen Schmerz verbunden. Auch weil damit das Eingeständnis verbunden sei, dass sie die Aufgabe nicht bewältigen können. »Darüber hinaus«, sagt Elke Krauss, »ist der Druck auf die abgebenden Eltern enorm.« Verwandte, Freunde redeten mit, oft nicht zum Wohl des Kindes.
Auch Esengül Akkayas Vater war nicht begeistert davon, dass seine Tochter in einer anderen Familie groß werden sollte, war mit der seiner Meinung nach viel zu freien Erziehung seiner Tochter überhaupt nicht einverstanden. Kontakt hat sie zu ihm nicht mehr.
Ganz anders lief es mit ihrer Mutter: War Esengül Akkayas in jüngeren Jahren zu Besuch bei ihr und blieb über Nacht, war klar, dass die Regeln der Pflegefamilien gelten. »Es gilt das, was die Elke gesagt hat«, sagte dann ihre Mutter zu Esengül Akkayas, wenn sie die Zubettgehzeit etwas ausdehnen wollte.
Der Bedarf an Pflegefamilien ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Vor allem sind es Kinder im Vorschulalter, die zu Hause kein Zuhause mehr haben. Aber auch für Babys werden Pflegefamilien gesucht. Den gestiegenen Bedarf erklärt Gerling damit, dass heute genauer hingeschaut, Kindern und Familien schneller geholfen wird.
»Ich würde es immer wieder tun«, betont Elke Krauss, »und kann es nur weiter empfehlen.« Sie sei Chancengeberin von Beruf, sagt sie und fühlt sich außerdem als Mutter. »Ich kann das meinen Pflegeeltern nicht zurückgeben, ich kann das nur an andere weitergeben«, sagt Romina De Braco und erklärt damit auch, warum die beiden jungen Frauen jetzt in einem sozialen Beruf arbeiten – beide kümmern sich um Kinder und Jugendliche. (GEA)